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Johannes Schilp: "Die Prozesskette sollte frei konfigurierbar sein."
27.06.2018  Technik
"Große Anbieter sperren sich noch gegen die Standardisierung"
Johannes Schilp beschäftigt sich intensiv mit Industrie 4.0. Im Interview spricht der Leiter des Lehrstuhls für Produktionsinformatik an der Universität Augsburg über den Status von Print 4.0.
Herr Schilp, wie sieht eine perfekte Print 4.0-Prozesskette aus?
Johannes Schilp: Sie ist vollautomatisiert. Dank standardisierter Softwareprotokolle, Datenformate und Schnittstellen ist volle Interoperabilität zwischen Maschinen und Anlagen unterschiedlicher Hersteller gewährleistet. Sensorik überwacht im Prozess die Qualität, was ein automatisiertes Nachsteuern ermöglicht, sobald sich Parameter verschieben. Nicht nur hier sind 4.0-Prozessketten flexibel. Sie können auch variierende Formate ab Stückzahl eins verarbeiten, wobei die Produkte autonom den Weg durch die Prozesskette finden.
 
Ist das im Book-on-Demand-Bereich nicht längst Realität?
Schilp: Tatsächlich ist die Druck- und Papierverarbeitungstechnik weit. Wir haben schon auf der drupa 2016 Lösungen gesehen, in denen der 4.0-Gedanke weitestgehend umgesetzt ist. Allerdings basieren sie meist noch auf proprietärer Technik einzelner Hersteller. Nun gilt es, diese Lösungen auf komplette Prozessketten auszuweiten, die für Maschinen verschiedener Hersteller offen sind. Denn kein Anwender möchte auf einen einzelnen Maschinenanbieter angewiesen sein. Die heutige Vielfalt an technischen Lösungen lässt sich nur dann in 4.0-Prozesswelten übertagen, wenn eine umfassende Standardisierung gelingt. Hier sehe ich in der Druck- und Papiertechnik den größten Hemmschuh. Noch sperren sich vor allem große Anbieter gegen die Standardisierung.

Ist das nicht verständlich? Was hätten sie von offenen Standards und Interoperabilität?
Schilp: Automatisierte Prozesse mit geringen Arbeitskosten lassen sich natürlich auch mit proprietärer Technik realisieren. Doch ein anderer wichtiger Vorteil von 4.0-Prozessketten ist damit nicht machbar: Das autonome Nachsteuern sämtlicher Folgeprozesse, wenn in einer Prozessstufe Abweichungen auftreten. Dafür müssen Produktions- und Sensordaten aller Maschinen und Anlagen in der Kette von Station zu Station weitergegeben werden. Um es plakativ zu beschreiben: Wenn der Druck nicht exakt maßhaltig aufs Substrat gelangt, dann reagiert eine 4.0-Prozesskette mit zwei Maßnahmen. Sie justiert den Druckprozess nach. Und sie gibt das Maß der Abweichung an die Weiterverarbeitungsmaschinen weiter, damit diese ihre Schneide-, Kleb-, Binde- und Veredlungsprozesse exakt an diese Abweichung anpassen. Aus Fehldrucken werden so lieferfähige Produkte. Das schont Ressourcen und hilft Druckereien, trotz enger Zeit- und Kostenbudgets wirtschaftlich zu arbeiten. Solche Lösungen sind aber nur machbar, wo freier Datenaustausch zwischen den Maschinen von unterschiedlichen Herstellern gewährleistet ist.

Da klingen die vielfältigen Ebenen der Industrie 4.0 an. Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Vorteile einer umfassenden Standardisierung?
Schilp: Hersteller und Anwender bekommen ein sehr viel genaueres Bild der tatsächlichen Fertigungsabläufe und Maschinenzustände. Prozess-, Maschinen- und Qualitätsdaten bieten langfristig die Möglichkeit, die Abläufe unter Einsatz von Machine-Learning-Algorithmen zu optimieren. Auch der Service verändert sich. Erste Druckmaschinenbauer experimentieren mit Modellen, in denen sie Maschinen betreiben, statt sie zu verkaufen. Sie stellen Kunden die nötige Technik hin, versorgen sie mit allen benötigten Betriebsstoffen, Druckfarben und Substraten und rechnen am Ende die angefertigten Druckprodukte ab. Anlagenbetrieb und Service liegen komplett in Händen des Druckmaschinenbauers. Solche Geschäftsmodelle setzen eine vollkommen gläserne Produktion voraus. Um Geld zu verdienen, brauchen die Anbieter sämtliche Prozess- und Verbrauchsdaten sowie Zustandsdaten der Maschinen. So lassen sich Serviceintervalle am realen Zustand orientieren statt an starren Wartungszyklen, die auch aus Haftungsgründen stets Sicherheitspolster enthalten.

Was kann die Druck- und Papiertechnik im 4.0-Bereich von anderen Branchen lernen?
Schilp: Im Gebäudemanagement gibt es Ansätze, Daten aus der Klima- und Lüftungstechnik für das Nachsteuern von Produktionsprozessen nutzbar zu machen. Etwa wenn Luftfeuchte und Temperaturen steigen oder Abluftfilter erhöhte Staubfreisetzung detektieren, was unter anderem auf suboptimale Schneideprozesse hinweisen könnte. Je früher vernetzte Systeme anschlagen, desto schneller können Anwender die Fehler beheben. Aber auch das geht nur mit standardisierten Datenschnittstellen.

In der Druck- und Papiertechnik gibt es den JDF/XJDF-Standard. Genügt der nicht?
Schilp: Er ist eine gute Basis, die es auszubauen gilt. Der freie Austausch von Daten – von der Auftragsdatenverarbeitung bis zur automatischen Weitergabe und Dokumentation aller Prozess- und Maschinendaten in einer digitalen Bauteilakte – muss über die Gesamtkette hinweg gewährleistet sein. Zugleich braucht es Schutzvorkehrungen, damit sich Hersteller und Anwender nicht komplett in die Karten schauen lassen müssen. Wenn Markenartikler in ihrer Corporate Identity einen Farbton definieren, muss ihre Druckerei nachweisen, dass sie diesen Farbton getroffen hat, aber nicht, wie genau sie das erreicht hat. In digital vernetzten Prozessketten ist dies durch geschickte Schnittstellenmodifikationen zu gewährleisten. Es geht darum, sensibles Knowhow zu schützen, ohne Maschinen daran zu hindern, sich im Pool der verfügbaren Daten selbständig die für ihren Prozess relevanten Informationen zu verschaffen. Das verstehe ich unter Industrie 4.0. Wenn dann noch die Prozesskette frei konfigurierbar und sowohl für analoge als auch für digitale Druckverfahren offen ist, dann ergeben sich Möglichkeiten – etwa Großauflagen kostengünstig analog zu drucken und sie dann innerhalb derselben Prozesskette digital zu individualisieren und zu veredeln.

Wie werden sich in dieser Produktionswelt die Bedienkonzepte verändern?
Schilp: Es wird digitale Assistenzsysteme auf Basis von Sprach- oder Gestensteuerungen geben, die Anwender und Servicekräfte mit Wartungs- und Reparaturanleitungen führen, wo sie Hilfe benötigen oder ihre Qualifikation für den notwendigen Eingriff nicht ausreicht. Über die reine Mensch-Maschine-Kommunikation hinaus braucht es neue Wege der intelligenten Datenanalyse und -aufbereitung, um Anwendern die Interaktion mit technischen Systemen so weit wie möglich zu erleichtern. Letztlich sollten die Systeme den Anwendern stets genau die Menge an Daten und Informationen zur Verfügung stellen, die sie tatsächlich brauchen. Läuft alles rund, genügt ein Minimum. Bei Problemen sollte das System selbst eine Lösung anbieten und die Anwender auf dem Weg zu dieser Lösung anleiten.
 
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